Das weiße Band am Apfelbaum
 
Einmal saß ich bei einer Bahnfahrt neben einem jungen Mann, dem sichtlich
etwas Schweres auf dem Herzen lastete.
Schließlich rückte er dann auch damit heraus und erzählte mir nach und nach,  dass er ein entlassener Sträfling und jetzt auf der Fahrt nach Hause sei.
Seine Verurteilung hatte Schande über seine Familie gebracht. Sie hatten ihn
nie im Gefängnis besucht und auch nur ganz selten geschrieben. Nun hatte er nach dieser langen und schweren Zeit niemanden mehr außer seiner Familie und er hatte beschlossen wenigstens zu versuchen zu ihnen zurück zu kehren.
Er sehnte sich nach seiner Familie. Die Jahre, in denen er jeden Kontakt zu
ihnen vermieden hatte, waren schmerzhafte Jahre gewesen. Jetzt, wo
er auf den Weg zu ihnen war, wusste er, wie sehr er sie die ganze Zeit vermisst und geliebt hatte.
Wie sehr wünschte er sich, dass sie ihm verzeihen würden. Zweifel und Ängste warfen den Mann innerlich hin und her.
 
Um es für sie leichter zu machen, hatte er ihnen in einem Brief
vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an
der kleinen Farm vor der Stadt vorbeifuhr, sofort erkennen könnte, wie sie
zu ihm stünden.
Hatten die Seinem ihm verziehen, so sollten sie in dem Apfelbaum an der
Strecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht wieder daheim
haben wollten, sollten sie gar nichts tun. Dann würde er im Zug bleiben und
weiterfahren, Er würde nicht mehr zurückkehren, immer weiter fahren, weit weg, Gott weiß, wohin.
Wenn Sie aber nur eine kleine Chance sehen würden, dass er sich bei ihnen
einfinden könne – und sei es nur für ein paar Tage – dann sollten sie ein
weißes Band in den Baum hängen. Er würde es sehen, der Zug fuhr ja
geradewegs an diesem Baum vorbei. Und wenn dort wirklich ein Band im Baum
hinge, dann würde er am nächsten Bahnhof aussteigen. Dann würde er zu ihnen zurückkehren.
Wenn dort ein Band im Baum hängt, nur dann.
Noch konnte er den Baum nicht sehen. Wenige Sekunden noch. Seine Hände
verkrampften sich.
Der Zug hatte sich ein wenig in die Kurve gelegt und sein Tempo verringert.
Seine Hände verkrampften sich noch mehr, und seine Spannung wurde so groß,
dass er es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ich
tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu
achten.
Der alte Apfelbaum kam näher, vor dessen Anblick der Mann sich so gefürchtet hatte.
Überwältigt von dem Anblick, der sich mir bot, rüttelte ich fest an dem Arm des Mannes „Da ist er“, flüsterte ich, und plötzlich standen auch mir Tränen in den
Augen, „alles in Ordnung, schau nur!“
Der Mann öffnete die Augen und durch den Schleier seiner Tränen sah er es:
Der ganze Baum war voller weißer Bänder –  hundert, vielleicht sogar zweihundert, sie flatterten im Wind wie Vögel;  unübersehbar.
 
In diesem Augenblick schwand alle Bitternis, die sein Leben vergiftet hatte.
„Mir war“, dachte ich, „als hätt ich ein Wunder miterlebt.“
Und vielleicht war es auch eines.

Nach Leichtigkeit sehnt sich auch unser Herz – Freiheit von altem Gepäck, alten Wunden und starren Mustern. Mit der Geschichte möchte ich euch Mut machen, „auf-zu-brechen“. Innerlich und äußerlich Neues zu zulassen, und alten Ballast abzuwerfen und Verbindung zu wagen!

Ich wünsche euch viele weiße Bänder und Zeichen der Hoffnung auf eurem Weg!

 

Conny Pinnekamp

training. coaching. seminare.

Trainerin und Coach für Gewaltfreie Kommunikation und Persönlichkeitsentwicklung